Am Sonntag, den 8. Januar 2017, strahlte die BBC die neueste Folge „Sherlock“ aus. Die Figur des Sherlock Holmes erreicht einen Tiefpunkt, doch die Serie findet in der zweiten Folge von Staffel 4 wieder zur gewohnten Qualität.
Weniger aktiongeladen als der dafür kritisierte Staffelauftakt, dreht sich „The Lying Detective“ wieder mehr um die psychologische Figurenentwicklung. Die Evolution der zerstörten Beziehung zwischen Watson und Sherlock spielt eine essentielle Rolle zur Lösung des Kriminalfalls. Außerdem betritt endlich der angekündigte Bösewicht die Arena, doch er wird lang nicht der Letzte in der Riege von Sherlocks Feinden sein. Schuss. Schwarzblende.
„Sherlock“ Staffel 4 Folge 2 - Review (Achtung, Spoiler!)
Nach Marys (Amanda Abbington) Tod müssen John Watson (Martin Freeman) und Sherlock Holmes (Benedict Cumberbatch) den Weg aus einer festgefahrenen Situation zurück in ihre Normalität finden – nicht jeder in seine eigene, sondern in einen gemeinsamen Alltag als Kollegen und Freunden. Watson versperrt sich gegenüber Sherlocks Kontaktaufnahme. Dem Eigenbrödler Sherlock fällt es indes schwer, die nötige Einfühlsamkeit an den Tag zu legen, um Watsons Vertrauen zu gewinnen. Schuldgefühle über Marys Tod zerfressen ihn ebenso wie sein Selbsthass und Frust darüber, dass er in zwischenmenschlichen Beziehungen – die auch ein erklärter Soziopath wie Sherlock nötig hat! – scheitert.
So stellt „The Lying Detective“ Sherlock anfangs in das unvorteilhafte Licht eines Egomanen, der die Grenze des Zumutbaren fehleinschätzt. Er drängt Watson zur Hilfe in einem Fall gegen den mutmaßlichen Serienkiller Culverton Smith (Toby Jones), obwohl die Stimmung zwischen ihnen noch weit von harmonischer Zusammenarbeit entfernt ist.
“Sherlock“ Staffel 4 Folge 1 – Kritik (Spoiler!)
Was oberflächlich nichts weiter als das Verlangen nach einem weiteren Erfolgserlebnis als Detektiv scheint, entpuppt sich als Teil eines größeren Plans „zu Watsons Rettung“ – ebenjener Mission, die Mary Sherlock per Videoaufzeichnung auftrug. Bevor wir das erfahren, bleiben wir jedoch einfache Zeugen eines selbstzerstörerischen Egotrips Sherlocks. Schuld an der Abwärtsspirale sind Drogen, die geniale Gedanken zu Hirngespinsten verzerren - oder andersherum? Ebenso wie Sherlock halten wir an seinen Hypothesen fest, denn die Alternative wäre, die Hauptfigur als verloren aufzugeben (und das wäre das Ende unseres Interesses an der Serie). Wir glauben also weiter daran, dass Sherlock die Kurve kriegt, sein Tango mit dem Teufel minutiös geplant ist und der Plan aufgehen wird. Wie schlecht es dem Detektiv geht, wird spätestens deutlich, als sich das vertraute Geräusch von notorisch verfassten Kurznachrichten einstellt und durch das Rauschen in seinem Kopf ersetzt wird. Ohne seine fast übermenschliche Multitaskingfähigkeit wirkt Sherlock so erschreckend verletzlich.
Sherlocks Schwächen schaffen Raum für Watson, das Ruder zu übernehmen. Als Sherlock seine wie vom Wahnsinn getriebene Jagd auf Smith auf dem Sterbebett einbüßt, sein Gegner bereit zum finalen Schlag über ihn gebeugt, hängt die Rettung von Watsons Timing ab. Schon klar, Sherlock kann nicht sterben, denn dann stürbe die Serie mit ihm. Die Spannung des Konflikts liegt im wie und wann seiner Lösung. In ihrer Komplexität übertrifft diese zweite Folge die vorangegangene: Sherlock und Watson sind gleichermaßen Schlüsselfiguren in der Auflösung des Falls, dessen tatsächliches Ausmaß bis zum überraschenden Ende der Folge ungeahnt bleibt.
„Sherlock“ schlägt ernstere Töne an - und lässt sich auf Nähe ein
In der Zusammenarbeit wachsen Watson und Sherlock über sich hinaus und intensivieren ihre Beziehung. Nicht nur in diesem Sinne ist die Folge überaus intim. Schon zu Beginn sind wir stille Teilnehmer an Watsons Therapiesitzung, die uns sein Gefühlsleben offenbart. Später beichtet Watson Mary (deren Präsenz er sich vorstellt) seine Definition von Liebe: Man sieht mehr in jemandem als das, was offensichtlich da ist; man glaubt an jemandes Potential; man liebt eine Idealisierung und akzeptiert dennoch, dass zwischen der Person und dem Bild, das man von ihr schafft, ein Abstand herrscht. Wir merken, dass sich genau diese Form der Bewunderung gerade zwischen Sherlock und Watson einnistet, in aller Subtilität. Watson verzeiht Sherlock Marys Tod und meint damit eigentlich, dass er Sherlocks Schwächen akzeptiert. Er wagt sich soweit, vor ihm einen Deduktionsversuch à la Sherlock zu machen und setzt sich somit willentlich der Gefahr aus, Sherlocks Besserwissen zum Opfer zu fallen. Auch Sherlock geht auf seine Weise Schritte in Richtung Freundschaft mit Watson. Er schenkt Watson die Anerkennung, nach der er fragt. Er gesteht sich selbst das „Manko“ ein, Freunde zu brauchen. Er lässt zu, dass Watson ein Stück von diesem lästigen, unwichtigen Aspekt namens Privatleben erfährt: Seinen Geburtstag.
„Sherlock“-Quiz: Nur Experten schaffen 10/12 Punkten!
Im Zuge von Sherlocks und Watsons persönlicher Annäherung gewinnt auch der Zuschauer an Intimität zum Privatmensch Sherlock. Das Mastermind nimmt in der Analyse seiner Fehler das Wort „Menschlichkeit“ sogar selbst in den Mund. Schwächen verhelfen seiner Figur zu mehr Größe. Die Folge setzt den exzentrischen Sherlock in den sozialen Kontext, der um ihn agiert und den er wider Willen nötig hat, beruflich und privat. Konsequent setzt die Handlung diese Linie fort: Die Revelation von Sherlocks Familiengeschichte ist nicht nur ein fantastischer Plot Twist, sondern trägt ihren Teil zum Puzzle von Sherlocks privatem Hintergrund bei.
Ein weiteres pikantes Detail: Sherlock hat wieder Kontakt mit „der Frau“ Irene Adler aufgenommen (Ah!). Er mag das vor Watson herunterspielen, aber spätestens seit Watsons verhängnisvollem Chat wissen wir, dass die Kombination aus elektronischen Kurznachrichten und einer attraktiven Frau am anderen Ende der Leitung mehr Gefahr birgt als erwartet.
Auch die biedere Haushälterin Mrs. Hudson zeigt neue Seiten an sich: Sie entpuppt sich wider Erwarten als ziemlich coole Lebefrau (und ja, das ist mindestens so überdreht wie die quietschenden Reifen ihres roten Luxus-Schlittens. Aber es macht einfach Spaß, ihr zuzusehen und deswegen wollen wir die fehlende Plausibilität an dieser Stelle nicht hinterfragen!).
Insgesamt unterliegt „Sherlock“ seit Marys Tod ein tragischer Unterton, der durch den überdrehten ersten Auftritt Mrs. Hudsons und Sherlocks sowie der vordergründigen Action, die die Jagd nach Serienkiller Smith erzeugt, zwar abgelenkt, aber nicht überwunden wird. Im Kampf gegen den genial besetzten Culverton Smith, der mit schiefem Lächeln seine Umwelt korrumpiert (und ungemein an Trump erinnert!?), wird der allzu siegessichere Sherlock von seiner Wahrnehmung getrübt.
Sherlock ist nicht Herr seiner Sinne und es wird umso schwieriger für ihn, seiner Eingebungen, die ihn nie im Stich lässt, zu vertrauen. Er kann seinen Gedankengang nicht mehr nachvollziehen und auf einmal ist er den Zuschauern sehr nah. Seine Unfähigkeit, seine Intuition vom Trugschluss seines Drogenrausches zu unterscheiden, bringt ihn auf unsere Ebene: Die, der Wartenden, der Rätselnden, die meist einen Schritt hinterher sind.
Dabei liegt die Faszination Sherlocks in seiner Souveränität. Wir wollen ihn einen Schritt voraus sehen. Diese Konstante verlässt uns für die Dauer seines Deliriums und auch am Ende, nach einem kurzen Triumph im Falle Smith, werden wir schnell auf den Boden ernüchternder Tatsachen geholt. Die Fäden im Netz der Intrigen um Sherlock verzweigen sich immer enger und verengen seinen Handlungsspielraum, ohne dass er sich darüber gewahr wird. Es waren nicht die manipulativen Fähigkeiten von Smith, die Sherlocks Voraussicht überstiegen, sondern die seiner Schwester.
Ist der Meisterdetektiv mit Drogenproblem auch noch nicht wieder ganz auf dem Damm, ist der Serienplot zumindest wieder da, wo Liebhaber ihn haben wollen: Auf einem Niveau der Komplexität und in einem Spannungsfeld, das den Hirnströmen des Meisterdetektivs gerecht wird und uns das kribbelige Gefühl zurückgibt, schnell weiterschauen zu wollen, um seinen Gedanken ganz dicht auf den Fersen zu bleiben.
„Miss me“ – miss who?
In der nächsten und dritten Folge, die bereits das Finale von Staffel 4 einläutet, erwarten wir die Auflösung des Masterplans, dem Sherlock gerade zum Opfer fällt. Erzfeind Moriarty (Andrew Scott) hat sich immer noch nicht blicken lassen und es schleicht sich die Vermutung ein, dass sein „miss me?“ – das stärkste Indiz für seine Rückkehr – vielleicht nicht (allein) sein Gruß an Sherlock ist. Entweder, jemand (Sherlocks Schwester) hat seine Handschrift angenommen, oder das Duo agierte von Beginn an zusammen. Welche Option es auch sei, die Wendung stellt Sherlock gleich mehreren unbekannten Feinden gegenüber.
Auch wenn, wie letzte Woche, der Folgen-Fall mit Smiths Überführung in sich abgeschlossen ist, ist das übergeordnete Rätsel nach dem „Endgegner“ – der nun mehr denn je im Plural erscheint – gewachsen. Blieb in der letzten Folge noch undeutlich, warum so viel Aufmerksamkeit in Watsons SMS-Affäre fließt (außer, dass sein beinahe-Ehebruch den Verlust seiner Frau noch schmerzlicher macht), so haben wir nun die Antwort: Auch dieser Handlungsstrang war Teil eines Netzes, dass seine Fäden dicht um die Hauptfiguren spinnt und Sherlock, ehe er sich versieht, eingesponnen hat. Wie steht es also um Sherlocks wieder aufgenommenen SMS-Kontakt mit „der Frau“?
„The Lying Detective“ schließt mit einem Schuss ab. Wie schon letzte Woche ist das letzte Bild vor der Schwarzblende eine rauchende Revolveröffnung. Wer springt nun schützend vor Watson?
„Sherlock“ Staffel 4 Folge 3 - Wohin fliegt die Kugel, Mr. Holmes?
Die nächste Folge feiert ihre Weltpremiere am nächsten Sonntag, den 15. Januar 2017, auf dem Heimatsender BBC One. Wann die Serie in Deutschland erscheint und wie ihr die „Sherlock“-Episoden von Staffel 4 im Live-Stream sehen könnt, erfahrt ihr im verlinkten Artikel. Eine Kritik der Folge wird ebenfalls hier erscheinen. Die vierte Staffel endet mit der nächsten Folge und berechtigt Fans zur Frage, wie es nach Staffel 4 mit „Sherlock“ weitergeht und wie es um eine Staffel 5 steht - wir gehen Fakten und Gerüchten auf den Grund.