Für Netflix hat sich die südkoreanische Filmindustrie zu einem Eckpfeiler für Inhalte entwickelt. Und doch fühlen sich dortige Filmschaffende im Stich gelassen.
Seit dem 2. Mai dieses Jahres streiken rund 11.500 US-amerikanische Drehbuchautor*innen, nachdem Verhandlungen der Writers Guild of America (WGA) mit der Alliance of Motion Picture and Television Producers (AMPTP), Vertreterin der Studio-Interessen, über bessere Rahmenbedingungen gescheitert waren. Ein Ende der Proteste ist noch immer nicht absehbar. Als direkte Konsequenz mussten zahlreiche Produktionen vorerst pausiert werden, darunter auch die Arbeiten an den neuen Folgen der großen Netflix-Serien „Stranger Things“ und „Cobra Kai“.
Für den Streaming-Giganten mit Sitz im kalifornischen Los Gatos ist dieser Streik besonders gefährlich, werden doch zu dieser Zeit eigentlich die Filme und Serien für die nächsten Jahre produziert. Dauert der Streik der WGA also an, könnte am Ende ein riesiges Loch zumindest an heimischen, also US-amerikanischen Produktionen klaffen. Seit nahezu alle großen Hollywood-Studios ihre eigenen Streamingdienste aufgestellt haben, muss sich Netflix mehr denn je auf Eigenproduktionen, sogenannte Originals konzentrieren, um die weltweit knapp 230 Millionen Abonnent*innen laufend mit Inhalten zu versorgen.
Umso mehr verlässt man sich auf internationale Produktionen, vor allem auf südkoreanische Filme und Serien. K-Dramen, wie südkoreanische Serien auch genannt werden, haben mittlerweile eine nicht zu unterschätzende Bedeutung im Erhalt und in der Generierung neuer Abonnements für Netflix, wie dessen Co-CEO Ted Sarandos kürzlich auf einer Veranstaltung in Seoul wissen ließ (via The Hollywood Reporter):
„Unfassbare 60 Prozent unserer Mitglieder haben bereits eine südkoreanische Produktion angeschaut – und die Nutzung von K-Inhalten hat sich in den vergangenen vier Jahren weltweit versechsfacht. Nehmt nur einmal ein Genre [als Beispiel]: die Romanze. 90 Prozent des Publikums von K-Romantikproduktionen kommen heute von außerhalb Südkoreas. Und im vergangenen Jahr haben es unser südkoreanischer Film ‚Carter‘ und zwei TV-Serien – ‚All of Us Are Dead‘ sowie ‚The Glory‘ – in über 90 Ländern in die Netflix-Top-10 geschafft. Natürlich schlägt nichts ‚Squid Game‘ – die größte TV-Serie in der Geschichte, die wir jemals gesehen haben.“
Um dieses stark wachsende Segment weiter zu befeuern und die Nachfrage nach K-Dramen zu befriedigen, wolle Netflix in den kommenden vier Jahren satte 2,5 Milliarden US-Dollar in diesen Markt investieren – auch, um Nachwuchskräfte auszubilden. Das Ziel des Streaming-Anbieters dürfte es sein, das nächste „Squid Game“ zu finden. Apropos „Squid Game“, die Mystery-Thriller-Serie steht mit über 1,65 Milliarden gestreamter Stunden noch immer unangefochten auf Platz 1 der erfolgreichsten Netflix Originals und hat den Wert des Unternehmens ganz allein um fast eine Milliarde US-Dollar in die Höhe schnellen lassen. Bei niedrigen Produktionskosten von gerade einmal 2,4 Millionen US-Dollar pro Episode versteht sich. Wahnsinn!
Und doch hat Hwang Dong-hyuk, Autor, Regisseur und Produzent in Personalunion, offenbar kaum von diesem Megaerfolg profitiert. Denn wie ein umfassender Bericht der Los Angeles Times offenlegt, musste Hwang sämtliche Rechte an seinem Werk vertraglich an Netflix abtreten. Bonuszahlungen? Gewinnbeteiligungen? Tantiemen? Gibt es nicht.
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Gegenüber The Guardian sagte Hwang in Bezug auf sein Gehalt, dass er genug habe, „um Essen auf den Tisch zu bringen“. Was das Unternehmen zahlt, ist von Fall zu Fall verschieden. Durchschnittlich gesehen, zahlt Netflix Showrunner*innen Schätzungen zufolge zwischen 30.000 und 100.000 US-Dollar pro Episode (via Careers in Film). Bei den neun Episoden der ersten Staffel könnte Hwang also zwischen 270.000 und 900.000 US-Dollar verdient haben. Geht man nach seiner Aussage, dürfte der Betrag eher im niedrigen sechsstelligen Bereich liegen. Zum Vergleich: Ryan Murphy, Showrunner von Serien wie „American Horror Story“ und „Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer“, hat mit Netflix einen 5-Jahres-Deal über 300 Millionen US-Dollar abgeschlossen.
Die Dreharbeiten zu „Squid Game 2“ sollen noch diesen Sommer beginnen. Einen ersten Teaser gab es auf dem „Tudum“-Fan-Event zu sehen.
Heimat von „Squid Game“: Einer der härtesten Arbeitsmärkte der Welt
Die südkoreanische Arbeitswelt gilt als eine der härtesten der Welt, mit teils unmenschlichen Bedingungen und langen Arbeitszeiten. Laut den Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD, Stand 2022) arbeiten Beschäftigte durchschnittlich 1.901 Stunden im Jahr, 560 Stunden mehr als hierzulande. Da macht auch die dortige Unterhaltungsindustrie keine Ausnahme. Arbeitszeiten von über 100 Stunden in der Woche sowie unbezahlte Überstunden seien dort gar an der Tagesordnung am Set, so Kim Ki-young, Vorsitzender der Broadcasting Staffs Union, die sich für die Interessen der Crewmitglieder einsetzt.
Mit dem Eintritt von Netflix in den südkoreanischen Filmmarkt erhoffte man sich einen positiven Effekt und eine Besserung der Arbeitsbedingungen, die aber nicht eintrat, denn der Streaming-Anbieter lagert seine Tätigkeiten in Südkorea an externe Unternehmen aus. Und die wiederum missachten Angaben zufolge häufig die gesetzlich festgeschriebenen Arbeitszeiten von 40 Stunden und nicht mehr als 12 Überstunden. Da der Großteil der Betroffenen auf freier Basis von Projekt zu Projekt angestellt werden, traut sich niemand, öffentlich aufzubegehren – aus Angst, keine Jobs mehr zu erhalten. Überarbeitung, Arbeitsdruck und schlechte Bezahlung treiben viele an die Grenzen ihrer Belastbarkeit, sogar Suizide soll es deswegen schon gegeben haben.
Den Erfolg von „Squid Game“ sieht Kim in gewisser Weise als Fluch und Segen für die südkoreanische Unterhaltungsindustrie:
„Die Tatsache, dass Netflix in der Lage war, einen solchen Welthit für so wenig Geld zu produzieren, bedeutet, dass dies zu ihrer Basis geworden ist. Sie wissen, dass sie das in Südkorea machen können.“
Netflix könnte das weiterhin so handhaben, als börsennotiertes Unternehmen dürfte es ohnehin eher die Interessen der Aktionär*innen denn der Mitarbeitenden vertreten. Aber das Unternehmen weiß um seine Verantwortung, wie Sarandos klargestellt hat:
„Generell ist es für uns wichtig, dass wir wettbewerbsfähig bleiben und ein gesundes Ökosystem fördern. Wir sorgen für ausreichend Unterstützung. Und im Falle des Erfolgs einer Serie sorgen wir dafür, dass die Verantwortlichen in der nächsten Staffel angemessen entschädigt werden.“
Das soll bei Hwang Dong-hyuk bei „Squid Game“ Staffel 2 tatsächlich der Fall sein. Aber der 52-jährige Filmemacher hatte auch das wohl beste Argument für mehr Gehalt.
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