Zum Abschluss des Krimijahres garniert Altmeister Dominik Graf seinen auf einem wahren Gerichtsurteil basierenden Thriller mit fast schon absurder Komik. Warum er mit dem gewagten Genre-Mix voll ins Schwarze trifft, erfahrt ihr hier in Mareks Kritik zum „Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts“.
Welche Kommissare ermitteln im „Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts“?
Vor über einem Jahr feierte Johanna Wokalek mit ihrem scharfzüngigen Angriff auf alle, die ihre politische Korrektheit wie eine Monstranz vor der Brust tragen, einen fulminanten Einstand als Nachfolgerin der nicht minder famosen Verena Altenberger, einige Monate später musste sie sich allerdings mit einem verhältnismäßig faden Krimi begnügen. Jetzt übernimmt der Münchner Erfolgsgarant Dominik Graf das Ruder und spendiert ihr und uns einen bestechenden Krimi, dem selbst ein unerwarteter Bruch im letzten Drittel nichts anhaben kann. Vielmehr gelingt es dem unterhaltsamen Drehbuch von Tobias Kniebe, ein auf den ersten Blick schwer nachvollziehbares Urteil des Bundesgerichtshofs in den üblichen Statuten eines 90-minütigen Sonntagabendkrimis verständlich aufzubereiten und seinem einmal mehr stark aufspielenden Ensemble keine Fesseln anzulegen.
Dass Johanna Wokalek und Stephan Zinner dabei erst zum dritten Mal gemeinsam ermitteln, ist kaum zu glauben. Ihre vollkommen natürlich daherkommende Vertrautheit kommt ohne jegliche Misstöne aus, auch wenn Cris Blohm den entscheidenden Hinweis bei der Klärung des Falls diesmal für sich behalten muss. Allein die unaufgeregte Reaktion ihres Kollegen spricht Bände und darf gern als Blaupause für all die oftmals aufgesetzt wirkenden Zankereien im „Tatort“ herhalten, den auch dank der einzigartigen Chemie zwischen Cris Blohm und Dennis Eden niemand an diesem Sonntag vermissen muss. Spannende Fakten zu Deutschlands beliebtester Krimireihe findet ihr im Video.
Worum geht es im „Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts“?
Ihre Mutter ist vor zwei Jahren an Krebs gestorben, der Vater hält sich vornehmlich in seiner Firma auf und ihre jüngere Schwester ertränkt ihren Schmerz im Luxus: Mia Horschalek flüchtet sich in eine wilde Beziehung mit Pornodarsteller Lukas, der eines morgens tot in seinem Wohnwagen aufgefunden wird. Neben Spuren eines Kampfes findet die Polizei jede Menge DNA am Tatort und landet prompt einen Treffer. Verwenden darf sie das Beweisstück allerdings nicht, sonst ist Rechtsmedizinerin Franca Ambacher ihren Job los. In einem Akt der Verzweiflung teilt sie Cris Blohm ihre Erkenntnisse über den Täter dennoch mit und stiftet die Kommissarin dadurch zu einem Alleingang an, der die Tonalität des bis dahin düsteren Thrillers in ungeahnte Gefilde umleitet.
Mareks „Polizeiruf 110“-Kritik: Großes Kino zum Abschluss des Krimi-Jahres 2024
Im Dezember 2012 entschied der Bundesgerichtshof, dass der Abgleich von DNA-Identifizierungsmustern im Rahmen einer Reihenuntersuchung nicht dafür verwendet werden darf, um Verwandte in einem möglichen anderen Fall zu identifizieren. Genau um dieses Urteil dreht sich der neuste Münchner „Polizeiruf 110“, der dessen Sinnhaftigkeit auf beeindruckend spielerische Weise offenlegt. In einer wunderbar spritzig vorgetragenen Szene konfrontiert Kommissarin Blohm einen von ihr im Grunde gehassten Rechtsanwalt damit, dass ihr aktueller Fall eigentlich gelöst wäre, wenn sie denn auf den Zufallstreffer zugreifen dürfte. Der überraschend sympathisch gezeichnete Winkeladvokat entgegnet ihr daraufhin launig, aber verständlich, dass es bei der Entscheidung des BGH darum geht, das Recht darauf zu bewahren, Familienangehörige nicht belasten zu müssen. Die Kommissarin müsse einen anderen Weg finden, um die DNA des Täters sicherzustellen, ihrer Fantasie seien dabei allerdings weniger Grenzen gesetzt, als es die vorausgegangene Juristerei vermuten ließe.
Diesen Tipp nimmt sich nicht nur Chris Blohm zu Herzen, sondern auch der gesamte „Polizeiruf 110“. Statt in einem Kammerspiel über Gewissensentscheidungen zu münden, brennen Tobias Kniebe, Dominik Graf und nicht zuletzt Johanna Wokalek ein Feuerwerk ab, dessen komödiantischer Einschlag in dieser Form nicht zu erwarten war. Die kühne Dreistigkeit, mit der die Kommissarin das Recht auf ihre Seite zu ziehen versucht, verwandelt das Justizdrama in eine überbordende Krimikomödie, ohne ihrem eigentlichen Ansinnen Schade zuzufügen. Klingt abenteuerlich, ist es auch und bleibt bis zur letzten Minute ein unwiderstehlicher Ritt auf der Rasierklinge, der das Krimijahr 2024 auf einem Höhepunkt enden lässt. Chapeau!
Der „Polizeiruf 110: Jenseits des Rechts“ wurde am Sonntag, den 29. Dezember 2024 um 20:15 Uhr in der ARD ausgestrahlt und ist jetzt in der Mediathek im Stream zu sehen.
