Seit 13 Jahren spaltet Ulrich Tukur mit seinen experimentellen „Tatorten“ die Krimigemeinde und musste über die Jahre viel Kritik einstecken, obwohl sie des Öfteren über das Ziel hinausschoss. Diesmal allerdings ist es der Film an sich, der sich ein gutes Stück zu weit aus dem Fenster lehnt. Warum die Figur des Wiesbadener Exzentrikers langsam ermüdend wirkt, erfahrt ihr in Mareks Kritik zum „Tatort: Murot und das Paradies“.
Welche Kommissare ermitteln im „Tatort: Murot und das Paradies“?
An LKA-Ermittler Felix Murot scheiden sich traditionell die Geister. Manche lieben die bisweilen surrealen Grenzüberschreitungen des bewusst provokant angelegten Kommissars, andere hoffen einfach nur auf einen halbwegs nachvollziehbaren Krimi am darauffolgenden Sonntag. Die Wahrheit liegt dabei wie so oft in der Mitte. Im Gegensatz zu den meist ungeliebten Sonderfolgen etablierter Größen wie den Münchner Urgesteinen Batic und Leitmayr hat der hessische „Tatort“ sein Publikum nie für dumm verkauft. Seine einmal im Jahr über die Mattscheiben flimmernden Extravaganzen waren von Anbeginn als Kontrast zur allseits bekannten Polizeiarbeit nach Schema F gedacht.
Die Ergebnisse glichen allerdings einer Wundertüte. Herausragenden Angriffen auf die üblichen Sehgewohnheiten wie etwa Dietrich Brüggemanns brüllend komischer „Und täglich grüßt das Murmeltier“-Variante folgten oft zähe Bräsigkeiten, die sich in ihrer programmatisch erstarrten Schrulligkeit so lange suhlten, bis die eigentlichen Kriminalgeschichten komplett außen vor waren. In letztere Kategorie fällt leider auch Florian Gallenbergers „Tatort“-Debüt, das sich trotz einiger hübscher Verweise auf große Hollywoodklassiker wie Stanley Kubricks „Odyssee im Weltraum“ am Ende nur selbstverliebt um die eigene Achse dreht.
Auch Gaststar Martin Wuttke kann das Ruder nicht herumreißen. Wer sich ansonsten im „Tatort“ die Ehre gab, erfahrt ihr im Video.
Worum geht es im „Tatort: Murot und das Paradies“?
Felix Murot ist verstimmt. Statt von seiner nicht vorhandenen Familie liebevoll umsorgt zu werden, türmt sich in der Küche seiner noblen Wohnung der Abwasch und es bleibt nur der rotweingeschwängerte Blick in die Glotze. Abhilfe soll eine Psychoanalyse schaffen, doch die Realität bietet dem strauchelnden Kommissar einen weitaus verlockenderen Ausweg aus der Schwermut. Zwei auf den ersten Blick makellose Leichen, denen als einzige Spur von Fremdeinwirkung eine Art Port anstellte des Bauchnabels implantiert wurde, weisen ihm den Weg ins Paradies.
Das wartet im Hinterzimmer einer mysteriösen Briefkastenfirma, zu deren Gunsten beide Opfer kurz vor ihrem Tod eine beachtliche Summe transferierten. Statt dem Rätsel auf den Grund zu gehen, verfällt Murot wie eine Art Glücks-Junkie dem Versprechen der Inhaberinnen, in einer von ihnen geschaffenen virtuellen Welt alle seine Träume durchleben zu dürfen. Dass er mit dieser Entscheidung dem Tod geweiht ist, nimmt der taumelnde Kommissar billigend in Kauf. Retten kann ihn nur das echte Leben in Form von Assistentin Magda Wächter, doch dazu müsste sie ihren Chef erst einmal ausfindig machen.
Mareks „Tatort“-Kritik: Felix Murot dreht sich nur noch im Kreis
Der Mensch an sich ist für das permanente Glück nicht geschaffen, vielmehr machen unerfüllte Wünsche und Sehnsüchte sein Leben erst lebenswert. Diese Weisheit passt nicht nur auf die Innenseite eines Glückskekses, sie reicht Autor und Regisseur Florian Gallenberger auch aus, um volle 90 Minuten auf dem prominentesten Sendeplatz des deutschen Fernsehens zu füllen. Die Möglichkeit, den sowieso jenseits aller Konventionen stehenden Murot beim Blick in sein Unterbewusstsein maximal eskalieren zu lassen, nutzt er bedauerlicherweise viel zu wenig. Nuckeln an der Mutterbrust, ein Ausflug ins Weltall und die Ermordung Adolf Hitlers als Reminiszenz an Quentin Tarantinos „Inglourious Basterds“ deuten nur an, was alles möglich gewesen wäre.
Aus den tolldreisten Fantasien eines Mannes in der Midlife Crisis hätte ein Feuerwerk entstehen können, doch leider füllen die kurzweiligen Ausflüge in Murots Unterbewusstsein nur einen kleinen Teil des Krimis aus, der sich ansonsten in ermüdenden Monologen verliert und so lange in Zeitlupe um seine Hauptfigur kreist, bis einem die Augen zufallen. Dass Felix Murot im Kern jemand ist, der seinen feinen Zwirn ablegen und aus sich herauskommen möchte, wissen wir seit einer gefühlten Ewigkeit und durften die vermeintlichen Tabubrüche auch schon mehrfach und mit deutlich mehr Esprit geschmückt bestaunen. Der neuste Wiesbadener „Tatort“ liefert uns dahingehend nichts Neues, vielmehr stellt sich eine gewisse Übersättigung ein. Einfach nur interessant in die Kamera schauen ist am Ende schlichtweg zu wenig, auch wenn das Gesicht dem großen Ulrich Tukur gehört.
Die „Tatort“-Episode „Murot und das Paradies“ wurde am Sonntag, dem 22. Oktober 2023 um 20:15 Uhr in der ARD ausgestrahlt und ist jetzt in der Mediathek für sechs Monate als Wiederholung im Stream verfügbar. Als nächstes geht es nach München zu den Urgesteinen Batic und Leitmayr. Warum auch sie in der Krise stecken, erfahrt ihr in der ausführlichen Kritik zum „Tatort: Königinnen“.