Im tristen Offenbach wird in „Becoming Charlie“ die Lebenswelt einer non-binären Hauptfigur im Eiltempo unter die Lupe genommen. Warum sich die kurzweilige ZDF-Miniserie lohnt.
„Was wäre, wenn?“, fragt Charlie die schwangere Alina, als sie Charlie ermahnt, nicht immer so männlich zu sein. Die beiden sind eng befreundet, wirken vertraut und küssen sich sogar, was Charlie aber eine Platzwunde einhandelt, denn Alina ist verheiratet und für eine dritte Person kein Platz.
Die Frage, wo Charlie eigentlich hingehört, bleibt in der sechsteiligen ZDF-Miniserie „Becoming Charlie“ erst einmal unbeantwortet. Auf Charlies bipolare Mutter ist kein Verlass, die nicht beglichenen Stromrechnungen türmen sich und als die Miete nicht mal mehr bezahlt wird, müssen Charlies Ersparnisse herhalten, was einen von vielen Wutausbrüchen und Murphy’s Law zur Folge hat: Alles geht schief und Charlie steckt mittendrin. Dabei gibt es eigentlich viel wichtigere Dinge, die Charlie beschäftigen, wie die Suche nach den eigenen Personalpronomen. Zuerst will Charlie vom sportbegeisterten Kumpel als Mann gelesen werden, geht mit ihm „pumpen“, nur um festzustellen, dass der eigene zierliche Körper gegen die Langhantel keine Chance hat.
Wenn ihr einen ersten Eindruck von der ZDF-Dramaserie bekommen wollt, könnt ihr euch nachfolgend den Trailer anschauen:
Das Leben am Existenzminimum treibt Charlie immer wieder an, das Energielevel scheint schier unendlich. Für wenig Lohn und kaum Trinkgeld strampelt Charlie gegen die Zeit und auf dem Fahrrad quer durch Offenbach, nur damit die Pizza am Ende doch wieder kalt bei der verärgerten Kundin ankommt. Charlie lackiert, repariert, klaut, putzt, tanzt und findet kleine Ruheoasen bei der Psychologiestudentin Ronja, mit deren clever gesetzten Impulsen ihr Gegenüber dann doch langsam etwas zu ahnen scheint: Charlie ist non-binär, identifiziert sich also weder als Mann noch als Frau.
Identitätssuche auf den Mainbrücken
Auch Lion H. Lau, Autor*in der Serie, ist non-binär und versteht Menschen wie sich und trans Personen als „blinde[n] Fleck“ in der Gesellschaft. Durch „Becoming Charlie“ erhofft sich Lau mehr Sichtbarkeit, aber auch Empathie für die Lebenswelten von trans und non-binären Menschen. Die erste deutsche Serie mit einer non-binären Hauptfigur führt behutsam an das Thema der Identitätssuche heran und dürfte vor allem für ein jüngeres Publikum hervorragend funktionieren. Das Erzähltempo von „Becoming Charlie“ lässt bei der Rezeption nur wenige Verschnaufpausen zu, die 15 bis 21 minütigen Folgen sind schnell konsumiert, aber gerade die ruhigen Szenen bleiben in Erinnerung: eine Hauptfigur, die erschöpft auf einer Mainbrücke steht oder sich beim Tanzen gedankenverloren selbst umarmt, aber auch das Ringen um Mutterliebe und mütterliche Akzeptanz, wenn Charlie sich die Brüste abbindet und keine „schöne Frau“ sein will, obwohl sich die Mutter das doch so sehr wünscht.
„Becoming Charlie“ könnt ihr bis zum 15. Mai 2024 in der ZDF Mediathek abrufen.
Leichtfüßig gegen das triste Offenbach
Lea Drinda verkörpert Charlie mit einer beachtlichen Selbstverständlichkeit und kann die innere Zerrissenheit ihrer Rolle trotz ihrer zarten Statue kraftvoll nach außen tragen. Drinda versteht es, Charlies Rastlosigkeit in kleinen Gesten spürbar werden zu lassen, aber auch, die Coming-of-Age-Thematik mit kindlichem Trotz in ihrem Spiel zu untermauern. Überhaupt haben die Macher*innen um Lion H. Lau, Kerstin Polte und Greta Benkelmann ein brillantes und ungewohnt diverses Schauspieler*innen-Ensemble zusammengetrommelt, das leichtfüßig gegen das triste Offenbach anspielt und auch über die teilweise etwas plakativ geratenen Konstellationen hinwegtrösten kann. Der von Charlie ausgelöste Dominoeffekt – ein Problem führt zum nächsten –, der die Serie stellenweise ziemlich konfliktbeladen werden lässt, schafft wiederum zutiefst bewegende Momente, in denen Charlie ganz bei sich zu sein scheint, das Schicksal aushebelt und die störende Außenwelt für einen kurzen Augenblick vergisst. Dass Charlie das Schreiben von Rap-Songs als Ventil für ihr Gefühlsleben nutzt, wirkt in der Serie selbst viel weniger klischeebehaftet, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
Trotz des beachtlichen Tempos und der kurzen Erzählzeit gelingt „Becoming Charlie“ ein sensibler Umgang mit solchen Findungsprozessen, denen bisher kaum Aufmerksamkeit in der deutschen Fernsehlandschaft zuteil wurde. Coming-of-Age mit einer non-binären Hauptfigur funktioniert ziemlich gut, auch weil die Fragen, mit denen sich Charlie im Laufe der Serie immer wieder konfrontiert sieht, sich auf jede*n ummünzen lassen. Es bleibt aber zu hoffen, dass die drängende Frage nach dem „Was wäre, wenn?“ irgendwann ins Leere läuft, weil sie keiner Antwort mehr bedarf.
„‚Becoming Charlie‘ ist ein Liebesbrief an meine Gemeinschaft der bisher Unsichtbaren“, sagt Autor*in Lion H. Lau über die Serie. Ich empfehle allen, diesen Brief zu lesen.
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